Nichts ist so spannend und bewegt den Menschen so sehr wie sein eigenes Verhalten und das seiner Mitmenschen. Auch in diesem Jahr greift IMAGE gemeinsam mit Dr. med. Willi Martmöller, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie (Tiefenpsychologie) in unserer Serie „Wie tickt der Mensch“ spannende Fragen auf und stellt verblüffende Antworten aus der Psychologie vor.
Wenn Sätze wie „Du bist zu sensibel“, „Schaff Dir mal eine dickere Haut an“ fallen, dann beziehen sie sich oft auf Menschen, die in positiven und negativen Situationen besonders empfindsam reagieren. Doch hinter der von anderen oft als übertrieben wahrgenommenen Reaktion kann viel mehr stecken. „Von Hochsensibilität sprechen wir, wenn Betroffene eine niedrigere Reizschwelle haben, sehr stark auf innere und äußere Reize reagieren und diese tiefer verarbeiten als andere Menschen. Der Begriff wurde in den neunziger Jahren von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron geprägt“, erklärt Dr. Willi Martmöller. „Viele Reize bestimmen den Alltag. Geräusche, Gerüche, Berührungen und Licht gehören zu den äußeren Reizen. Innere Reize stammen aus dem Körper selbst und umfassen neben Wahrnehmungen wie Harndrang oder starkem Herzklopfen auch Gedanken und Gefühle wie Freude, Wut oder Angst. Das menschliche Gehirn verarbeitet Reize unterschiedlich und filtert die Informationen. Verantwortlich dafür ist der Thalamus. Dieser Teil des Zwischenhirns wird ‚Tor zum Bewusstsein‘ genannt. Er entscheidet darüber, welche äußeren und inneren Reize ins Bewusstsein dringen und welche nicht. Deshalb haben Menschen eine unterschiedliche Wahrnehmung und verhalten sich entsprechend. Experten vermuten, dass der Thalamus bei hypersensiblen Menschen deutlich mehr Informationen als relevant ansieht und ins Bewusstsein lässt als bei Menschen mit niedriger oder mittlerer Sensitivität. Während sie dadurch einerseits Schönes intensiver empfinden, kommt es andererseits in reizintensiven Situationen schnell zu einer Reizüberflutung. Dann können Betroffene mit Ausbrüchen von Angst oder Wut reagieren.
Nach ersten Studien mit Magnetresonanztomografie (MRT) vermuten die Wissenschaftler auch eine stärkere Erregung des Neokortex - jener Teil der Großhirnrinde, der an der Steuerung der Aufmerksamkeit und der Sinnesverarbeitung beteiligt ist. Auch eine Veränderung des Hypothalamus, der für die Steuerung des vegetativen Nervensystems (Atmung, Herzschlag, Stoffwechsel) verantwortlich ist, wird angenommen.
Wichtig für Betroffene ist das Wissen, dass hinter ihrem Verhalten Hochsensibilität steckt. Sie können den Mitmenschen signalisieren, dass sie gerade eine Auszeit brauchen. Sie können lernen, sich selbst aus der Situation zu entfernen oder eine Widerstandsfähigkeit, die Resilienz, aufzubauen und die Situation auszuhalten. Regelmäßige Ruhephasen sind für jeden Menschen wichtig. Wer aber auf Reize besonders empfindsam reagiert, muss diese umso mehr beherzigen. anja
Hochsensibilität ist keine Krankheit, aber...
Hochsensibilität ist keine psychische Störung, kann aber eine solche verursachen. So gibt es Hinweise, dass hochsensible Menschen anfälliger für Depressionen und Angststörungen sind. Außerdem können sie aufgrund der ständigen Überreiztheit somatoforme Störungen entwickeln, also körperliche Symptome ohne organische Ursache. Um Hochsensibilität psychologisch zu testen, verwenden Experten meist die HSPS-G-Skala, die „Highly Sensitivity Person-Scale for German-speaking populations“. Das ist eine übersetzte und modifizierte Skala der HSP-Scale von Aron und Aron (1997) mit 26 Aussagen, mit der versucht wird, die Sensitivität für sensorische Verarbeitungsprozesse zu erfassen.