Nichts ist so spannend und bewegt den Menschen so sehr wie sein eigenes Verhalten und das seiner Mitmenschen. Auch in diesem Jahr greift IMAGE gemeinsam mit Dr. med. Willi Martmöller, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie (Tiefenpsychologie) in unserer Serie „Wie tickt der Mensch“ spannende Fragen auf und stellt verblüffende Antworten aus der Psychologie vor.
„Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wir brauchen eine bestimmte Anzahl von sozialen Kontakten. Die Zahl der Menschen, mit denen wir diese Kontakte pflegen, ist individuell unterschiedlich. Ging der britische Anthropologe Robin Dunbar noch in den 90er Jahren von rund 150 Kontakten aus, spricht er heute aufgrund der sozialen Medien von 180 Kontakten. Andere Studien gehen bis auf 300 Kontakte. Einig ist man sich aber darin: Die Kontakte sind begrenzt. Werden es zuviele, können wir Gesichter nicht mehr mit Namen verbinden und unsere Beziehungen nicht mehr aufrecht erhalten. Dunbar untersuchte die sozialen Bande von Primaten. Dabei machte er eine spannende Entdeckung: Die Gruppengröße einer Art hängt mit deren Gehirngröße zusammen. Die Großhirnrinde (Neokortex) war mit der Komplexität der Affengesellschaften gewachsen. Offenbar braucht es Grips, um mit Artgenossen zu interagieren, sich zu verbünden und sich an frühere Begegnungen zu erinnern. Der Mensch hat, im Vergleich zu allen Primaten, den größten Neokortex – und somit die größte Kapazität für viele Beziehungen. Das komplexe Netzwerk verschiedener Hirnregionen, das es uns ermöglicht, mit anderen zu interagieren, besteht unter anderem aus dem Präfrontalkortex, dem Temporalkortex und der Amygdala. 2011 zeigten Forschende um Kevin Bickart von der Boston University School of Medicine, dass Menschen mit einem relativ großen Freundeskreis im Schnitt über ein größeres Amygdala-Volumen verfügen.
Von Menschen, die über einen längeren Zeitraum ohne oder mit sehr wenigen sozialen Kontakten leben (beispielsweise Forscher, Astronauten, Gefängnisinsassen) wissen wir: der Hippocampus im Großhirn schrumpft. Er ist die Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis. Durch Verbindungen mit anderen Hirnregionen können der Hippocampus und die Amygdala Signale emotional bewerten. Schrumpft der Hippocampus, machen Wissenschaftler dafür zum einen den fehlenden Kontakt zu anderen Menschen verantwortlich, zum anderen auch die immer gleiche Umgebung. Dieser Sinnesentzug sowie die soziale Isolation haben Folgen und führen nicht selten zu posttraumatischem Stress. Je länger die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen andauert, desto größer werden ihre psychischen und neurobiologischen Folgen.“(anja)