IMAGE im Gespräch mit Chefarzt Dr.med. Mario Iasevoli vom Evangelischen Krankenhaus Witten.
Dr. Mario Iasevoli, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am EvK Witten.
Das Versorgungsspektrum der Klinik für Innere Medizin am Ev. Krankenhaus Witten umfasst die allg. Innere Medizin mit allen Teilgebieten. Dazu gehört die Gastroenterologie, die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts und der Bauchorgane. Chefarzt Dr. Mario Iasevoli wurde 2024 von der Universität Witten/Herdecke zum Honorarprofessor ernannt. Der Ärztliche Direktor des EvK ist seit Jahren bei der Studierenden-Auswahl im Vorfeld beteiligt, er betreut Medizinstudierende bei Lehrveranstaltungen und Prüfungen und ist Ansprechpartner und Ausbilder bei ihren Praxiseinsätzen im EvK.
IMAGE: Was ist ein Reizdarm?
IASEVOLI: Ein Reizdarm ist eine funktionelle Magen-Darm-Störung und weit verbreitet. Die Krankheit kann in jedem Alter entstehen. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Die Betroffenen leiden länger als drei Monate an chronischen oder in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Beschwerden. Die Beschwerden sind so stark, dass der Patient deswegen Hilfe sucht und seine Lebensqualität deutlich beeinträchtigt ist. Wir unterscheiden dabei vier verschiedene Beschwerdetypen, die sich in der Symptomatik überlappen oder kombinieren können: Verstopfung, Durchfall, Blähungen oder ein allgemeiner Schmerztyp. Um ein Reizdarmsyndrom (RDS) zu diagnostizieren, muss eine genaue Anamnese erfolgen. Betroffene mit Reizdarmsyndrom sehen oft gesund aus und die Beschwerden können auch andere Ursachen haben. Daher muss die Diagnostik andere Erkrankungen ausschließen. Dazu gehören vor allem chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa oder eine Glutenunverträglichkeit (Zöliakie). Des Weiteren müssen Tumore oder Polypen ausgeschlossen werden. Es gibt standardisierte Kriterien, die von den Ärzten abgefragt werden und mit ergänzenden Möglichkeiten von endoskopischen und bildgebenden Verfahren, Blutuntersuchungen und Biopsien zur RDS-Diagnose führen. Wichtig ist mir der Hinweis, dass es sich um nachweisbare Beschwerden handelt. Ein Reizdarm ist nichts, was sich der Betroffene einbildet. Es gibt eine Vielzahl von Studien zu diesem Thema. Wir können heute bei RDS-Patienten eine Störung im sogenannten enterischen Nervensystem nachweisen. Es durchzieht nahezu den gesamten Verdauungsapparat und hat einen starken Einfluss auf den Verdauungsprozess.
IMAGE: Was sind die Ursachen für ein Reizdarmsyndrom?
IASEVOLI: Es kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Das Reizdarmsyndrom ist gehäuft mit somatoformen und sekundär auch mit psychischen Störungen verbunden. Somatoforme Störungen sind körperliche Beschwerden, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen. Dahinter können sich enterale Infekte, hormonelle Veränderungen, aber auch schmerzhafte Überempfindlichkeiten verbergen. Nahrungsmittelunverträglichkeiten wären ebenfalls als mögliche Ursache für einen Reizdarm zu nennen. Auch vorangegangene Antibiotikatherapien können ein Auslöser des RDS sein. All dies kann zu einer entsprechenden Veränderung des enteralen (Magen-Darm) Nervensystems führen.
Unser Darm wird – genau wie übrigens unsere Haut – von Billionen von Bakterien, Viren und Pilzen besiedelt. Wir nennen diese Lebensgemeinschaft ein Mikrobiom. Es ist so individuell wie unser Fingerabdruck. Je vielfältiger es ist, desto widerstandsfähiger ist es. Wir wissen heute, dass sich das Mikrobiom bei Krankheiten verändert, zum Beispiel bei Darmerkrankungen. Die medizinische Forschung arbeitet weltweit an Medikamenten und Therapien zum Mikrobiom. Wir wissen, dass es unser Immunsystem trainieren kann. Geht etwas schief, fehlen bestimmte Mikroben oder ihre Stoffwechselprodukte und es steigt das Risiko für verschiedene Erkrankungen. Man weiß heute aber auch, dass emotionale Faktoren wie Stress, Depression oder Nervosität die RDS-Symptome begünstigen oder verschlechtern können.
IMAGE: Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
IASEVOLI: Man muss individuell herausfinden, was dem Betroffenen hilft. Dazu ist es empfehlenswert, den Krankheitsverlauf genau zu beobachten. Als Hilfe kann der Betroffene die Beschwerden in einem Tagebuch notieren. Das hilft dem Arzt, zwischen dem Krankheitsschub und dem Alltag des Betroffenen einen Zusammenhang zu erkennen.
Sehr viel ist von der Ernährung und vom individuellen Lebensstil abhängig. Wer unter einem Reizdarmsyndrom leidet, sollte sich zunächst seine Ernährung ansehen und aufschreiben, was gegessen und getrunken wird. Vielen Menschen geht es besser, wenn sie häufiger kleine Mahlzeiten als wenige große Mahlzeiten zu sich nehmen (beispielsweise sind fünf oder sechs kleine Mahlzeiten besser als drei große Mahlzeiten pro Tag). Gesunde abwechslungsreiche Speisen sollten den Speiseplan bestimmen. Wichtig ist auch, dass jeder Betroffene herausfindet, welche Speisen nicht vertragen werden und diese dann meidet. Wer zu Blähungen und vermehrter Gasbildung (Flatulenz) neigt, sollte Bohnen, Kohl und andere schwer verdauliche Nahrungsmittel meiden. Verstopfung kann oft durch Essen von mehr Ballaststoffen und durch das Trinken von mehr Wasser gelindert werden. Die Einnahme löslicher Ballaststoffe, etwa Flohsamen, kann hilfreich sein.
RDS-Symptome lassen sich auch durch ätherische Öle lindern. Hierzu
zählen Kümmel- und Pfefferminzöl. Eine Möglichkeit ist es auch, unter medizinischer Aufsicht mit einer strikten Diät zu beginnen und jeweils weitere Lebensmittel zuzufügen, um deren Verträglichkeit zu überprüfen. Zum Einsatz können unter bestimmten Voraussetzungen bei krampfartigen Beschwerden auch bestimmte Medikamente wie Antidepressiva kommen. Ihr Einsatz in der Schmerztherapie steigert die persönliche Schmerzschwelle, sodass RDS-Betroffene eine Linderung ihres Schmerzes erfahren. Eine antidepressive Wirkung ist hierbei weder gegeben noch erforderlich. Sport und Entspannungstechniken sind ebenfalls bei Reizdarm zu empfehlen. Möglicherweise müssen Betroffene auch über eine Verhaltensänderung oder eine begleitende Psychotherapie nachdenken, um an emotionale Stress- und Angstfaktoren zu arbeiten. Schmerzmittel wie ASS, Ibuprofen, Paracetamol oder opiat-ähnliche Wirkstoffe haben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bis jetzt keinen Einfluss auf RDS. Dies gilt auch für die Einnahme von Probiotika, mit denen für den Aufbau des Mikrobioms geworben wird. So einfach ist das aber nicht.
IMAGE: Wie kann man belastenden Alltagssituationen vorbeugen?
IASEVOLI: Das ist natürlich sehr individuell. Betroffene müssen lernen, sich zu entspannen und Stress zu bewältigen. Entspannungsübungen und meditative Bewegungstherapien wie autogenes Training oder Yoga können hier unterstützend wirken. Sportliche Betätigung wirkt sich meist ebenfalls sehr positiv aus. Für viele Patienten kann es sehr hilfreich und entlastend sein zu wissen, wo die nächste Toilette in der Öffentlichkeit ist. Im Theater oder Kino kann ein Außensitzplatz auch eine Entspannung im Kopf bewirken. Wichtig ist dabei, dass die Patienten zur Normalität zurückfinden, was auch das vegetative Nervensystem entsprechen wieder harmonisiert. Und manchen Menschen hilft es auch, sich in einer Selbsthilfegruppe auszutauschen. anja