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Hattingen

Ich versuche, ein Beziehungs-Fänger zu sein

„Bei Mobbing oder Demütigung liegt der Schlüssel immer bei den Eltern und in der Familie.“

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Streetworker Peter Wiersch und Schatzmeisterin Katja Dreves. „Ohne sie wäre der Verein nicht denkbar.“ Foto: privat

Peter Wiersch (53) ist alles - aber kein klassischer Pädagoge. Der Hattinger gründete den gemeinnützigen und mildtätigen Verein Kinder- und Jugendhilfe Ruhrgebiet e.V. und seine Arbeit fängt dort an, wo viele Erwachsene aufgegeben haben. Motorradstuntfahrer, Rennmechaniker, Netzwerker mit Polizei, Jugendamt, Lehrern und Psychologen, Streetworker - der Wiersch versucht, die harten Kids zu packen. Mit Erfolg.

IMAGE: Du arbeitest mit den harten Typen. Jungs und Mädchen?
WIERSCH: Ja, mittlerweile schon. Am Anfang habe ich nur mit Jungs gearbeitet, seit unserer Vereinsgründung im Februar 2022 nun auch mit Mädchen. Die meisten haben ordentlich was auf dem Kerbholz. Dazu gehören Drogendelikte, versuchter Mord oder andere Gewaltformen, auch in Clanstrukturen. Ich arbeite sehr häufig mit traumatisierten Kindern und in der Mobbing-Prävention, sowie mit Kindern und Eltern, die mit alltäglichen Problemen erzieherisch in einer Sackgasse feststecken. Diese Arbeit bindet in der Regel nicht nur das Kind oder den Jugendlichen ein, sondern die Familie und das relevante Umfeld.
IMAGE: Die Kinder oder Jugendlichen kommen freiwillig zu Dir?
WIERSCH: In der Regel nicht. Da ist im Vorfeld eine Menge passiert, bevor über Jugendamt, Polizei oder andere Einrichtungen der Kontakt zu mir entsteht. Über Werkstatt-, Sport- oder Erlebnispädagogik-Projekte entsteht der Zugang zu den Kindern und Jugendlichen. Es gibt aber auch welche, die sich z.B. wegen Mobbing von selbst an mich wenden. Auch Eltern die z.B. Probleme mit Erziehung, Straftaten oder Schulverweigerung haben, kontaktieren mich sehr häufig.  
IMAGE: Wie schaffst Du Bindung ohne Blockade des Teilnehmers?
WIERSCH: Ich sehe mich als eine Art Beziehungs-Fänger. Ohne Bewertung und ohne Druck. Nur Zuhören und Verstehen. Ansonsten würden die Kinder und Jugendlichen sofort dicht machen. Über Motorräder, Boote, Quads, einen kleinen Bagger oder über meine Hunde nimmt der Kontakt Fahrt auf. Zwischen mir und dem Teilnehmer muss eine Bindung und eine Beziehung entstehen, die beiderseits auf echtem Interesse beruht. Das braucht Zeit. Vertrauen muss sich aufbauen. Das tut es nur, wenn ich Ereignisse oder Straftaten nicht bewerte. Soziale Werte und Zusammenhalt werden heute seltener in der Familie gelebt. Das ist aber wichtig. Viele Kinder oder Jugendliche sind deshalb auf der Suche nach Menschen, die für sie „ihre“ Familie sein können. Finden sie diese nicht, fehlt ihnen der Halt. Ohne Bindung sind in ihrer Entwicklung Brüche bis hin zu Straftaten vorprogrammiert. Etwa die Hälfte dieser Jugendlichen bekommt durch meine Hilfsmaßnahmen im Laufe der Zeit einen Zugang zu sich selbst, zur Tat, zum Leid der Opfer. Dann hat die Empathiearbeit mit ihnen funktioniert. Bei der anderen Hälfte kann man davon ausgehen, dass ein Teil von ihnen in Zukunft nur noch minderschwere Straftaten begehen wird. Einen kleineren Teil der Jugendlichen erreiche ich trotz allergrößter Bemühungen nicht. Hier weiß ich leider oft selbst nicht genau, warum das so ist. Deshalb liegt mein Fokus nicht nur auf den Kindern, Jugendlichen und deren Familien, bei denen meine Hilfe und Unterstützung Positives bewirkt, sondern eben genau auf denen, die ich durch meine Arbeit (noch) nicht erreichen konnte. Es ist mein stärkster Antrieb, noch besser zu werden, noch genauer zuzuhören, was mir die Kinder über ihre Biographie versuchen zu vermitteln. Deshalb werden diese Kinder und Jugendlichen nie endgültig aus meiner Maßnahme als „nicht erreichbar“ entlassen. Stattdessen erhalten sie immer eine Möglichkeit, die Maßnahme zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen zu können, um ihnen selbst zum Abschied noch Halt, Sicherheit und Zugehörigkeit als wertvolle, positive korrigierende Beziehungserfahrung mit auf den Weg zu geben. Bei mir kann man „niemals aus einer Maßnahme rausfliegen“. Meine Türen sind und bleiben für sie immer geöffnet.
IMAGE: Wir haben die furchtbaren Taten aus Freudenberg und Heide erlebt - der Tod von Luise und per Video gezeigte Mobbingerlebnisse einer Jugendlichen. Was macht das mit Dir?
WIERSCH: Mich machen solche Taten sehr traurig. Mobbing oder Demütigung sind oft Auslöser für Taten, Straftaten oder grausame Verbrechen, weil die Hemmschwelle im Vorfeld mit jeder noch so kleinen Tat schwindet und irgendwann ganz wegfällt. Taten wie die in Freudenberg und Heide erinnern mich jedesmal an meine Kindheit und Schulzeit. Das Wort Mobbing war noch nicht erfunden, aber die Inhalte waren damals leider mein eigener Schulalltag. Meine persönlichen Erlebnisse mit Mobbing sind unter anderem der Grund dafür, dass ich vom Profi-Handwerker zum Spezialisten für Kinder und Jugendliche aus schwierigsten Verhältnissen wurde, einen Jugendhilfeverein gründete und mich so gut in betroffene Kinder, Jugendliche und Familien hineinversetzen kann. Das gilt für Opfer und Täter, denn in jedem Täter steckt auch ein Opfer. Bei der grausamen Tat im Fall Luise stellt sich für mich die Frage nach der Verantwortung von Eltern, Familie und Umfeld. Eine radikale Bindungs- und Beziehungsarbeit muss folgen, um die Täterinnen davon abzuhalten, weitere Straftaten zu begehen und eines Tages die begangene Tat in ihrer Grausamkeit und Tragweite verstehen zu können. Ich halte nichts davon, das Alter der Strafmündigkeit herabzusetzen. Es braucht keinen Straf- sondern einen Familienrichter und intensive, traumasensible pädagogische Arbeit. Die Strafe - wenn wir diesen Begriff jetzt nutzen - ist das lebenslange Leben mit der Tat und die vollkommen andere Lebensrichtung für Täterinnen und beteiligte Familien. Wissenschaftlich gesehen entwickelt sich Gewalt - auch an Schulen - rückläufig. Aber je schwerwiegender sie ist, desto mehr fällt sie auf.
IMAGE: In Deiner Arbeit erlebst Du Niederlagen, Provokationen?
WIERSCH: Natürlich. Sie sind das Benzin für meinen inneren Motor, um durch meine Arbeit vorbeugen, helfen und informieren zu können. Zur Arbeit mit den sogenannten Systemsprengern gehört untrennbar die pure Provokation. Ein Jugendlicher, mit dem ich arbeitete, schickte mir ein Foto seiner eigenen Exkremente. Er wollte die Verbindung zu mir überprüfen, mich beeindrucken, provozieren. Ich habe einen Daumen hoch gesetzt und geschrieben „Respekt, Donnerwetter!“. Durch meine Haltung, mich nicht provozieren zu lassen, stattdessen Respekt zu zollen und ohne Umwege zu loben, hat er weitere Beziehungsangebote an sich herangelassen. Unsere Beziehung wurde gestärkt. Meine Teilnehmer haben alle kollektive Ablehnungs- und Ausgrenzungserfahrungen erlebt. Nur über Lob, Respekt und Verständnis kann noch eine Verbindung entstehen. Strafen erzeugen neue Probleme.
IMAGE: Gibt es beruflich jemanden, von dem Du begeistert bist?
WIERSCH: Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik. Für ihn und mich ist ein Systemsprenger keine Diagnose oder Persönlichkeitseigenschaft. Es ist ein Interaktionsprozess. Die Vermittlung von Selbstwahrnehmung, Einsicht und Werten braucht Zeit und eine Tat sehen wir immer rückwärts. Wenn man nie richtig schwimmen gelernt hat und untergeht, ist niemals die Badehose schuld. anja