Was ist, wenn es mehr als nur gelegentliches Genusstrinken ist? Besuch im Suchthilfezentrum.
Tanja Große Munkenbeck und Sabine Niggemann gehören zum Team vom Suchthilfezentrum Hattingen der Caritas Ruhr Mitte.
Es ist wieder soweit: Die Weihnachtsmärkte haben geöffnet und ein Hauptprodukt der Märkte ist der Alkohol. Glühweinstände mit dem süffigen Heißgetränk in rot und weiß, bio oder mit Apfelgeschmack. Die Modegetränke aus dem Sommer gibt es jetzt außerdem oft als heiße Variante. Zusätzlich locken Feuerzangenbowle, Grog, Jagertee und vieles mehr. Kakao gibt‘s auch – oft mit Schuss. Die nicht-alkoholische Variante von Kinderpunsch fristet ein Schattendasein. Hoch die Tasse und ein Hoch auf die Geselligkeit. Alkohol ist allgegenwärtig.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. legt erschreckende Zahlen vor: Fast 8 Millionen Menschen der 18- bis 64-Jährigen konsumieren in Deutschland Alkohol in einer gesundheitlich riskanten Form. Bei weiteren 9 Millionen Menschen liegt ein problematischer Konsum vor. Deutschland ist Hochkonsumland und liegt im internationalen Vergleich seit Jahren an der Spitze. Die Zahl der alkoholkranken Menschen ist gestiegen. Rund 1,5 Millionen Menschen mussten im letzten Jahr wegen ihrer Alkoholsucht ambulant oder stationär behandelt werden. Tendenz steigend. Aus einer Studie der Barmer Krankenkasse geht zudem hervor, dass es im Norden mehr alkoholkranke Menschen gibt als im Süden. Medizinisch zu erklären ist es nicht, daher vermutet man soziodemographische Gründe.
In Hattingen kümmert sich das Suchthilfezentrum der Caritas Ruhr Mitte in der Heggerstraße um Menschen, die sich eingestehen: Ja, ich habe ein Problem mit Alkohol und ich brauche Hilfe. Alkoholabhängigkeit hat dabei viele Gesichter. Die WHO definiert eine Abhängigkeit wie folgt: „Typischerweise bestehen ein Verlangen, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird im weiteren Verlauf oft Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickelt sich eine Toleranzerhöhung und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom.“
Tanja Große Munkenbeck und Sabine Niggemann vom Suchthilfezentrum sagen: „Wenn es nicht mehr um ein gelegentliches kontrolliertes Genusstrinken geht, sondern wenn ich Alkohol regelmäßig einsetze, um meine Stimmung zu verändern, dann sollte ich mir die Frage nach meinem Trinkverhalten stellen.“
Beide machen deutlich: es geht dabei nicht um ein gelegentliches Glas Alkohol. Es geht um die Allgegenwart von Alkohol in unserer Gesellschaft. Wer nicht trinkt, muss sich eher rechtfertigen als derjenige, der trinkt. Wer über 18 Jahre und nicht schwanger ist, hat mitzutrinken. Unsere abendländische Kultur ist nicht nüchtern. Wer nicht mittrinkt, gilt als Spaßbremse.
Im letzten Jahr nahmen 781 Menschen das Hilfsangebot der Hattinger Beratungsstelle wahr. Fast alle waren selbst betroffen, nur 125 Menschen kamen als Angehörige. Der problematische Konsum von Alkohol (301 Fälle) und Cannabis (130 Fälle) führte am häufigsten zur Kontaktaufnahme. In 107 Fällen war es ein Mehrfachkonsum verschiedener Drogen. Eine deutliche Zunahme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt es beim Glücksspiel und bei Essstörungen.
„Wir erleben einen regelrechten Ansturm. Und die Fälle werden auch komplizierter“, sagt Tanja Große Munkenbeck. Sabine Niggemann ergänzt: „Wir reden von einem Teufelskreis. Man versucht, Ängste und Depressionen über Suchtmittel zu kompensieren. Aber durch ein Alkoholproblem kann eine Depression entstehen. Denn hoher Alkoholkonsum verändert auf lange Sicht die Gehirnstruktur.“
In die Beratungsstelle kommen die Menschen in der Regel erst dann, wenn sie bereits eine langjährige Alkoholgeschichte haben. „Sie haben eigene und erfolglose Versuche zur Einschränkung des Konsums hinter sich. Und sie spüren oft erste negative Auswirkungen des Alkoholkonsums. Beim Beratungstermin wird in einem Erstgespräch die Geschichte des Betroffenen erfragt. Es geht um Entgiftung, um eine ambulante oder stationäre Therapie – das ist höchst unterschiedlich, wie verfahren werden muss. Die Entgiftung dauert zwei Wochen, danach kommt es zu therapeutischen Angeboten. Wir haben viele Gruppenangebote, die zum Aufbau von Sozialkontakten beitragen und eine Tagesstruktur geben“, so Große Munkenbeck. Eine sinnvolle Freizeitgestaltung und die Vermeidung von Isolation sind für eine zufriedene Lebensperspektive und dauerhafte Abstinenz unabdingbar. „Denn der Verzicht auf Alkohol ist für diejenigen, die bereits ein risikohaftes Trinkverhalten hatten, unerlässlich. Da gibt es lebenslang nur noch schwarz oder weiß“, machen die beiden Expertinnen deutlich.
Verfügbarkeit von Alkohol sollte eingeschränkt werden
Was sie sich wünschen, können sie klar benennen: „Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Alkohol müsste eingeschränkt werden. Das gilt für den Verkauf im Supermarkt genauso wie für Werbemaßnahmen. Ein Verkauf von Alkohol in speziellen Shops und zu höheren Preisen und ein Umdenken bei der Getränkeauswahl und dem Preisniveau in Restaurants und Gaststätten wäre sinnvoll. Es gibt in der Regel eine viel größere Auswahl an alkoholischen Getränken wie an nicht-alkoholischen Produkten – und nicht selten sind die alkoholischen Angebote preiswerter oder zumindest nicht teurer als die nicht-alkoholischen Angebote. Mit Alkohol kann man sehr einfach Geld verdienen – auch auf den Weihnachtsmärkten. Da ist es kein Wunder, dass sich die Glühweinstände gefühlt vervielfacht haben.“
Glühwein muss, um überhaupt so genannt werden zu dürfen, einen Alkoholgehalt von mindestens sieben Prozent haben – kann aber auch bis zu 13 Prozent steigen. Ähnliches gilt für Punsch. Noch mehr ist normalerweise in der Feuerzangenbowle und im Jagertee. Letzteres ist eine Mischung aus Tee und hochprozentigem Rum, die einen Alkoholgehalt von mindestens 15 Volumenprozent Alkohol hat. Bei der Feuerzangenbowle, die als Grundlage roten Glühwein enthält, erhöht sich der Alkoholgehalt durch die Zugabe von hochprozentigem Rum. Auch wenn sich einiges davon durch das Flambieren von Zucker wieder verflüchtigt, liegt der Alkoholgehalt im Schnitt über dem von Glühwein. Moderne Mischvarianten haben es erst recht in sich. So kann z.B. ein heißer Caipirinha mehr als 35 Volumenprozent Alkohol enthalten.
Alkohol ist ein Zellgift. Ein gelegentliches Genussverhalten macht keine Sucht. Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist schmal. anja