Mit individuell abgestimmten Behandlungen werden Fähigkeiten erhalten und gefördert.
Stephan Ziemke, Chefarzt der Klinik für Geriatrie und Tagesklinik. Foto: EvK
Die Fortschritte in der Medizin führen dazu, dass die Menschen immer älter werden. Das bedeutet aber nicht, dass sie im Alter auch gesünder sind. Das führt dazu, dass heute in allen Gebieten der Medizin immer mehr ältere Patienten behandelt werden, die auf spezielle ärztliche Hilfe angewiesen sind. Diese erhalten sie in der Geriatrie. Das ist die medizinische Spezialdisziplin, die sich mit den körperlichen, geistigen, funktionalen und sozialen Aspekten in der Versorgung von akuten und chronischen Krankheiten, der Rehabilitation und Prävention älterer PatientInnen sowie deren spezieller Situation am Lebensende befasst. Am Evangelischen Krankenhaus Witten kümmern sich Chefarzt Stephan Ziemke, Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie, und sein Team um genau diese PatientInnen.
IMAGE: Was bedeutet Geriatrie?
STEPHAN ZIEMKE: Hinter dem Begriff verbirgt sich die Lehre von den Krankheiten des alternden Menschen. In den meisten europäischen Ländern ist die Geriatrie ein eigenständiges Fach oder ein Schwerpunkt in der Inneren Medizin. Im EvK Witten ist die Geriatrie die größte eigenständige Fachabteilung. In den meisten Fällen sind geriatrische PatientInnen über 70 Jahre alt. Für die Behandlung ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, denn viele Senioren leiden an mehreren Krankheiten zugleich, die teilweise chronisch sind. In der Praxis bedeutet das: Der Geriater als Spezialist für die Behandlung älterer Menschen kennt sich auf vielen verschiedenen Gebieten aus. Denn der Organismus eines älteren Menschen funktioniert anders als der eines jungen Menschen. Das Ziel sind individuelle Behandlungslösungen.
IMAGE: Die Besonderheit in der Behandlung ist die frührehabilitative Komplextherapie. Was ist das?
STEPHAN ZIEMKE: Das Besondere daran ist, dass die intensive Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie (Sprach- und Schlucktherapie) nicht nacheinander, sondern parallel zur stationären Behandlung durchgeführt werden. In anderen Fachabteilungen liegen die PatientInnen oft lange im Krankenbett. Muskelmasse wird abgebaut, die PatientInnen werden schwächer und verlieren in dieser Zeit oft bestimmte Fähigkeiten. Zum Beispiel Fähigkeiten wie Laufen und Bewegen oder sich selbstständig zu waschen und anzuziehen. In der Geriatrie passiert dies nicht, weil Therapeuten begleitend zur medizinischen Versorgung dafür sorgen, dass die PatientInnen diese Fähigkeiten behalten oder sogar noch verbessern. Ziel ist es, möglichst die Pflegebedürftigkeit zu vermeiden und die Patienten mobiler nach Hause zu entlassen. Die geriatrische frührehabilitative Komplextherapie (GFK) ist somit ein ganzheitlicher therapeutischer Ansatz für ältere PatientInnen, begleitend zu internistischen, neurologischen oder chirurgischen Eingriffen.
IMAGE: Welche Fachleute arbeiten bei der GFK zusammen?
STEPHAN ZIEMKE: Unser Team besteht aus ÄrztInnen, Pflegepersonal, Physio- und ErgotherapeutInnen, LogopädInnen und SozialarbeiterInnen. Wir alle sind geriatrisch ausgebildet und arbeiten in enger Absprache zusammen, um die PatientInnen möglichst schnell zu mobilisieren.
IMAGE: Mit welchen typischen Beschwerden kommt der ältere Mensch zu Ihnen?
STEPHAN ZIEMKE: Viele ältere Menschen leiden unter körperlicher Schwäche und den Folgen von Stürzen, Muskelschwund, Unterernährung, chronischen Erkrankungen wie Herz- und Niereninsuffizienz, Diabetes mit Spätfolgen sowie akute Erkrankungen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und schwerwiegende Infekte. Außerdem behandeln wir neurologische Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer und andere Demenzen.
Dabei wird der Therapieplan individuell auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmt. Physio- und Ergotherapie trainieren beispielsweise Ausdauer, Kraft und allgemeine Belastbarkeit. Von Seiten der Ergotherapie und Pflege werden Körperpflege, Essen, Trinken, selbstständiges An- und Auskleiden und andere alltägliche Bewegungsabläufe geübt. Bei Bedarf werden Logopäden oder Neurologen hinzugezogen. Auch Gespräche mit Angehörigen sind ein wichtiger Bestandteil der geriatrischen Behandlung.
Vor diesem Hintergrund wurde der geriatrische Versorgungsverbund „Netzwerk Geriatrie“ im Ev. Verbund Ruhr (EVR) geschaffen. Zentraler Knotenpunkt in Witten ist das Ev. Krankenhaus. Mit der Klinik für Geriatrie mit Tagesklinik sowie dem altersmedizinischen Schwerpunkt in allen Bereichen bietet dieses Netzwerk eine ganzheitliche Therapie von der Akutbehandlung über die Frühmobilisation bis hin zur ambulanten Weiterbehandlung. Bei allen Patienten, bei denen Heilung bzw. Besserung nicht mehr erreicht werden kann, steht die palliative Versorgung im Vordergrund.
IMAGE: Menschen mit einer zusätzlichen demenziellen Erkrankung sind aber noch schwieriger zu versorgen?
STEPHAN ZIEMKE: Ja, das ist richtig. Patienten mit demenziellen Erkrankungen stellen uns vor besondere Herausforderungen. Ein Umgebungswechsel und die ungewohnten Abläufe und Untersuchungen im Krankenhaus stellen für einen demenzkranken Menschen eine große Herausforderung dar. Deshalb gibt es zum Beispiel für demenziell erkrankte PatientInnen spezielle Krankenzimmer. Dort hängen Bilder, die das Auffinden des Zimmers erleichtern, oder Kalender, die zeigen, welcher Wochentag, welches Jahr und welche Jahreszeit gerade ist. Oder Uhren, die im 24-Stunden-Rhythmus die genaue Zeit anzeigen.
IMAGE: Älter werden - und das möglichst gesund - wollen wir alle. Was empfehlen Sie, damit wir gesund älter werden können?
STEPHAN ZIEMKE: Für den Muskelaufbau sind Ausdauersportarten wie Wandern, Radfahren oder Schwimmen gut. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Arzneimitteln ist unabdingbar und muss nach Rücksprache mit dem Haus- oder Facharzt regelmäßig überprüft werden. Viel zu viele ältere Menschen nehmen zu viele Präparate ein. Außerdem ist es ganz wichtig, sich auch im Alter ausreichend und ausgewogen zu ernähren und genug zu trinken.
Damit es im Alter nicht zu Stürzen kommt, ist es wichtig, die eigene Wohnung barrierefrei umzugestalten und Hilfsmittel wie Rollator, Gehstock, trittsicheres Schuhwerk, Brille, Hörgerät oder einen Treppenlift zu benutzen. Unterstützung bieten hierbei die Seniorenbüros der jeweiligen Städte, die oft eine Beratung zum Thema Pflege und barrierefreie Wohnungsumgestaltung anbieten. Das sollte frühzeitig geschehen, damit es erst gar nicht zu Problemen kommt. Und schließlich sind soziale Aktivitäten ganz wichtig! Und zwar am besten in der Gruppe, weil die Interaktionen mit anderen Menschen die eigene Hirnleistung fördern. Sich geistig fit zu halten, kann die Entwicklung einer Demenz verzögern, denn das Gehirn ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss. Und auch dafür sorgen wir in der Geriatrie mit Gruppenaktivitäten wie gemeinsames Kochen, Singen oder Spielen. Wir haben übrigens auch eine Computer-Konsole. Unsere Wii mit Gleichgewichtsspielen ist bei vielen PatientInnen der absolute Hit. Auch das trägt dazu bei, dass bei uns die älteren Menschen schnell wieder fit werden.anja