Dr. Martina Przygodda, Unternehmerin und Psychologin mit dem Kick für Streitkultur.
Martina Przygodda
Dr. Martina Przygodda, Jahrgang 1960, ist ein Kind des Ruhrgebiets. Geboren und aufgewachsen in Lünen kam sie über Essen 1994 nach Hattingen. Viele Jahre war sie als geschäftsführende Gesellschafterin einer Unternehmensberatung in Köln tätig, bis sie 2015 aus privaten Gründen ihre Geschäftsanteile verkaufte. Was mit drei gleichberechtigten Kollegen startete, entwickelte sich zu einer dreißigköpfigen Firma mit einer Niederlassung in der Schweiz und einem bundesweiten Aktionsradius. Einen neuen Schwerpunkt im Leben setzen – das wollte die promovierte Psychologin tun. 2020 gründete sie „Ein KICK für Hattingen“ – ehrenamtlich. Politischer Diskurs und bürgerschaftliches Engagement sind ihr eine Herzensangelegenheit, verpackt in Begegnungen, Gesprächskreisen, Lesungen, Interviews, Videos und Diskussionsrunden. Moderne Streitkultur als KICK im gesellschaftlichen Leben.
IMAGE: Wenn Sie sich an Ihre Kindheit erinnern - waren Sie ein typisches Mädchen oder wurden Sie so erzogen?
PRZYGODDA (lächelt): Nein. Ich war nicht putzig. Ich bin in Lünen aufgewachsen mit meinen Eltern und einem zehn Jahre älteren Bruder. Mein Vater hat im Bergbau gearbeitet, meine Mutter führte den Haushalt. Ich war ein fleißiges Kind, habe viel Sport gemacht – sogar Leistungssport im Geräteturnen. Das hat mich mit meiner Mutter verbunden, die auch sehr sportlich war. Das Fahrrad war meine Mobilität und ist es immer noch. Ich habe die Realschule besucht und mir war früh klar, dass ich nur durch Leistung und Bildung in meinem Leben mehr erreichen konnte. Das Abitur habe ich auf dem zweiten Bildungsweg absolviert. Ich habe eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht, in sozialen Brennpunkten gearbeitet und später in Wuppertal Arbeits- und Organisationspsychologie studiert. Ich war ein Mädchen, welches früh gelernt hatte sich durchzusetzen und das zu machen, was ich machen wollte. Da konnte und kann ich sehr beharrlich sein. Meine Eltern hatten weder finanziell noch intellektuell die Möglichkeit, mich umfassend zu fördern. Aber sie haben mich machen lassen und meine Bemühungen freundlich zur Kenntnis genommen. Ich musste mich selbst in die Hand nehmen – mit Unterstützung besonderer Menschen. Dazu gehörten mein Mann, den ich mit 19 Jahren kennengelernt habe, und der Professor, bei dem ich promoviert habe.
IMAGE: Fleiß und Beharrlichkeit haben Sie geprägt. Aber Sie sagen, es braucht auch menschlichen Input von außen?
PRZYGODDA: Das ist richtig. Mein Mann war Lehrer für Recht und Wirtschaft an einer Berufsschule. Er ist ein paar Jahre älter als ich und das hat mich schon geprägt, weil er mir andere Welten öffnen konnte. Wir diskutieren viel. Gesellschaftspolitische Themen gehören zu unserem Alltag. Ohne meinen damaligen Professor hätte ich wohl auch nicht promoviert. Ich war nicht mit Leib und Seele Wissenschaftlerin, aber er verstand mich zu unterstützen. Die eigenen Stärken plus der Input von außen zu einem passenden Zeitpunkt – diese Kombination lässt Chancen erkennen und Realität werden. So war das auch bei mir beruflich. Ich wollte eigentlich im Personalbereich als Angestellte arbeiten und hatte nie daran gedacht, über eine freiberufliche Tätigkeit eine Unternehmensberatung aufzubauen. Teamarbeit, Coaching, Führungskräfteentwicklung und das im bundesweiten Einsatz – man muss die Chance erkennen, wenn sie da ist und bereit sein, ein kalkulierbares Risiko zu tragen.
IMAGE: Sie wirken selbstbewusst und stark. Waren Sie das immer?
PRZYGODDA: Nein. Heute bin ich das sicher und mit mir sehr rund. Aber es hat eine Phase in meinem Leben gegeben, in der ich mein Leben als Hamsterrad empfunden habe. Zu dem Zeitpunkt habe ich stärker gewirkt, als ich manchmal war. Damals habe ich mir Hilfe geholt und ich denke, ich hätte es alleine auch nicht geschafft. Doch meine persönliche Krise hat mich stärker und zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.
IMAGE: Sie haben 2015 Ihre Firmenanteile verkauft und sich noch einmal selbst einen neuen Kick gegeben?
PRZYGODDA: Ja, das Wort ist Programm. „Ein KICK für Hattingen“ ist eine Initiative des Bürgerschaftlichen Engagements. Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, Senioren zu gesellschaftlichen, politischen und persönlichen Themen zusammen und ins Gespräch zu bringen. Gemeinsam mit Annemarie Enßen moderiere ich Gesprächskreise und Biografiegespräche. In vertraulichem Rahmen besprechen wir Themen, die uns alle bewegen. Wir engagieren uns mit Lesungen, Buchbesprechungen, Interviews und Diskussionsveranstaltungen „Gegen das Vergessen“, aber auch gegen Rassismus, Hass und Gewalt. Wichtig ist uns, dass die Untaten der Nazizeit im Bewusstsein bleiben und wir Stellung beziehen gegenüber menschenfeindlichem Verhalten.
IMAGE: Und dabei begegnen Sie auch starken Frauen?
PRZYGODDA: Unbedingt. Die KonzertLesung „In Auschwitz gab es keine Vögel“ im März 2024 war mit 140 Gästen bis auf den letzten Platz gefüllt. Monika Held erzählte die Geschichte von Heiner, der Ausschwitz überlebt hat, und nahm die Gäste mit auf eine Zeitreise in unsere dunkle deutsche Geschichte. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und NRW-Antisemitismusbeauftragte, war im November 2023 unser Gast. Der junge Künstler Oliver Schäfer hat im Sommer 2023 eine wunderbare Portraitreihe furchtloser Frauen gestaltet. Seine „Furchtlosen Frauen“ waren im Stadtmuseum Hattingen zu sehen. Besonders schön war auch das Schülerprojekt zum Thema MUT, das mit sechs Hattinger Schulen von der Leiterin des Stadtmuseums Gudrun Schwarzer-Jourgens initiiert und organisiert wurde. Zu Gast war auch Anja Röhl, die Stieftochter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhoff und Klaus Röhl. Sie berichtete im März 2023 über Erholungsheime für Kinder, die in der frühen Bundesrepublik oft auch Orte der Gewalt waren. Und am 18. März 2025 wird uns Bundestagspräsidentin Bärbel Bas besuchen. Viele Infos gibt es auf unserer Homepagepage unter www.kick-hattingen.de.
IMAGE: Was raten Sie jungen Frauen heute: wie werden sie eine starke Frau?
PRZYGODDA: Mädchen sollten sich ausprobieren und dann eine Entscheidung treffen für das, was sie wirklich machen wollen. Sie müssen bereit sein, ein kalkulierbares Risiko einzugehen und mit Leidenschaft für ihre Überzeugung und ihren Platz im Leben kämpfen. anja