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Witten

Die IMAGE-Serie „Starke Frauen“: „Frauen denken redend. Frauen reden denkend.“

Dr. Kerstin Glathe, Jahrgang 1965, aufgewachsen in Dortmund, studierte Musikwissenschaft und Geschichte in Bochum, Münster und Edmonton/Kanada. Seit vielen Jahren lebt sie in Witten, arbeitet seit über dreißig Jahren als freie Journalistin und Musikredakteurin beim WDR. In ihrer Wahlheimatstadt Witten ist sie seit vielen Jahren im Ehrenamt aktiv – von der Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis hin zur Mitarbeit in der Nachbarschaftsinitiative Nordstraße, ihrer Heimatstraße. Hier hat sie sich mit ihrer Familie eine grüne Oase mitten in der Stadt erschaffen. Individuell, mit viel Liebe zum Detail. 
Im Gespräch mit der IMAGE-Redaktion sagt sie: „Ich bin eine starke Frau geworden, weil ich als Kind und Jugendliche schwach war.“

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Dr. Kerstin Glathe (60), Musikwissenschaftlerin, technische Musikredakteurin beim WDR, Autorin, Podcasterin, Netzwerkerin im Ehrenamt und im Job.

Kerstin „Katie“ Glathe ist eine Frau mit Lebenserfahrung. Und sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Auf meine Frage, ob sie eine starke Frau geworden sei, weil sie bereits als Kind zur Stärke erzogen wurde, sagt sie: „Nein. Im Gegenteil. Man hat auf mich nicht gut aufgepasst. Ich bin eine starke Frau geworden, weil ich als Kind schwach war. Weil ich im Laufe der Zeit Hilfe annehmen konnte, wurde aus Schwäche Stärke. Denn es ist persönliche Stärke, Hilfe annehmen zu können.“
Ihre Wurzeln liegen im Feminismus und im Pazifismus. „Ich hatte Lehrer, die Hausbesetzer zur Diskussion in die Schule einluden. Wir konnten problemlos Pazifisten sein, weil es Nationen gab, die auf uns aufpassten. Heute müssen wir uns der Verantwortung selbst stellen und auf uns selbst aufpassen,“ sagt die Frau, die regelmäßig zwischen Köln und Witten mit dem Zug pendelt und seit sechs Jahren kein Auto mehr fährt. „Ich will nicht mehr. Ich bin 15 Jahre mit dem Auto nach Köln zum WDR gependelt. Das war Wilder Westen pur. Heute sitze ich im Zug, rede mit den Menschen.“ WDR2 Klassik hat sie mitaufgebaut. WDR Event auch. Sich immer wieder neu erfunden. Kreativ und frei. 
Doch neben der Kölner Welt gibt es das Leben in der Wittener Heimat. 
Schon als Kind habe sie beschlossen, als erwachsener Mensch auf Kinder und Jugendliche aufzupassen. Besser aufzupassen, als sie selbst es erfahren hat. „Ich habe eine Geschichte darüber gemacht, wie Flüchtlinge Weihnachten feiern. Diese Begegnungen haben mein Herz zerrissen und ich habe gesagt, ich kann mehr tun. Dann erhielt ich einen Anruf, ob ich eine Vormundschaft für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling übernehmen wollte. Das habe ich gemacht. Etwas später kam eine zweite Vormundschaft für ein Mädchen dazu. Beide sind heute erwachsen und haben Kinder,“ erzählt Kerstin Glathe, die selbst zwei Kinder hat. 
Schon lange gehört sie zu den Ehrenamtlichen, die beim Help-Kiosk Witten e. V. mitmachen. Das ist ein gemeinnütziger Verein, der sich seit Dezember 2014 für die Unterstützung und Integration von Geflüchteten in Witten einsetzt. In einem denkmalgeschützten Kiosk an der Hauptstraße bietet der Verein ein niederschwelliges Angebot, das Geflüchteten bei alltäglichen Herausforderungen zur Seite steht. „Erst im letzten Monat haben wir wieder zwei neue Ehrenamtliche für die Arbeit gewinnen können.“
Durch die Arbeit mit geflüchteten Menschen macht sie gesellschaftliche Erfahrungen hautnah. „Beispielsweise mit der Bürokratie. Vieles ist mir absolut unverständlich.“ Ihre gesellschaftliche Überzeugung formuliert sie klar: „Seit mehr als dreißig Jahren ist der Staat schon nicht mehr für den Menschen da. Stattdessen unterstützt er wohlhabende Menschen und solche Strukturen, die für noch mehr Konsum sorgen. Wir kaufen, was wir nicht brauchen, weil wir glauben, dass uns Konsum gesellschaftlich und beruflich voranbringt.“
Ihre Stärke kann Kerstin Glathe leben, weil sie „bei sich“ und „mit anderen“ ist. „Mein soziales und kulturelles Engagement im Team mit tollen Menschen hat sich immer ergeben. Ich bin gefragt worden, ob ich mitmachen will. Katie, das fleißige Bienchen...“ Dass aber auch mal stechen kann. Im Oktober 2019 kreierte sie mit einem Team den „Kulturschock“ in der Wittener Citypassage. Einen Tag wurden alle leerstehenden Ladenlokale in Kunstateliers und Musikbühnen verwandelt. Der Erfolg war grandios – so gut, dass sie noch am gleichen Tag gefragt wurde, ob sie es noch einmal machen kann. Konnte sie, besser: hätte sie gekonnt... aber: „Ohne Moos nix los.“ Geld sollte es nicht geben. Doch „kostenlos“ ist selten etwas. Die Kosten trägt immer jemand. 
Was wäre heute ihr Traumjob? „Streetworkerin in der Betreuung von Jungen“, sagt sie sofort. „Damals war ich Feministin und wäre nie auf den Gedanken gekommen, mit Jungen zu arbeiten.“ Das Leben hat ihre Sichtweise geändert. Mindestens im Ehrenamt arbeitet sie viel mit jungen Männern. Keine Zeigefinger-Pädagogik. Aber den Finger in die Wunde legen in Gesprächen, das macht sie schon. „Viele Beleidigungen sind ein Schrei nach Hilfe und der Wunsch nach Aufmerksamkeit. Wer das Gefühl hat, in der Gesellschaft nicht richtig wahrgenommen zu werden, der kämpft gegen die Gesellschaft. Ein Jungen-Coaching wäre wichtig.“ 
Zu wenig Frauen in Führungspositionen? Da hat Kerstin Glathe auch eine klare Meinung: „Frauen müssen heute immer noch dreimal so gut sein wie Männer – in allem. Dabei haben Frauen so viel Potenzial. Wie die Managementtrainerin Vera Birkenbihl sagen würde: Männer versuchen, Herausforderungen möglichst allein zu lösen. Sie fragen nicht. Frauen hingegen denken redend und reden denkend. Sie holen sich Hilfe und kommunizieren die Herausforderung im Team. Ich denke, eine sehr gute Möglichkeit, gemeinsam zum Ziel zu kommen.“
von Dr. Anja Pielorz