IMAGE im Gespräch mit den Oberärzten Anja Ranft und Alexander Kolodziej vom EvK Witten.
Heute leben in Deutschland bereits 1,8 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. Die Mehrheit von ihnen leidet an einer Demenz vom Typ Alzheimer, aber es gibt viele weitere dementielle Erkrankungen. Bis 2050 – so schätzen Fachleute – wird die Zahl der Betroffenen auf 2,4 bis 2,8 Millionen Menschen steigen, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt. Die Oberärzte Anja Ranft und Alexander Kolodziej arbeiten in der Geriatrie am EvK Witten. Das Haus gehört zum Ev. Verbund Augusta Ruhr (EVA Ruhr). IMAGE hat mit ihnen über die Symptome, Diagnostik und Therapie der Demenz gesprochen.
IMAGE: Was versteht man unter Demenz?
RANFT: Demenz ist ein Oberbegriff für verschiedene Hirnerkrankungen, die vor allem im Alter auftreten und zu einem fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten wie Denken, Erinnern, Orientierung und Sprache führen. Je nach Ursache und betroffenen Hirnarealen treten unterschiedliche Symptome und Verläufe auf. Die häufigste Form einer Demenz in etwa sechzig bis achtzig Prozent aller Fälle ist die Alzheimer-Erkrankung. Das bedeutet: Jeder Mensch mit Alzheimer hat eine Demenz, aber nicht jede Person mit Demenz hat Alzheimer. Es gibt auch noch andere Formen, beispielsweise die vaskuläre Demenz. Während es bei der Alzheimer-Erkrankung zu einer Ansammlung von Eiweißstoffen im Gehirn kommt und in der Folge zum Absterben von Nervenzellen, entsteht die vaskuläre Demenz durch Durchblutungsstörungen im Gehirn, bei dem Nervengewebe abstirbt. Für die meisten Betroffenen geht durch die Erkrankung die gewohnte Sicherheit im Alltag verloren, und zwar ihre räumliche Orientierung, aber auch die Wortfindung, die schriftlichen Fähigkeiten und viele weitere Aspekte. Für die Angehörigen sowie für den Betroffenen selbst stellt die Erkrankung eine sehr große Herausforderung und Belastung dar.
IMAGE: Wie wird die Diagnose gestellt?
KOLODZIEJ: Vor der Diagnose stehen die Symptome, die sowohl von dem Betroffenen als auch von den Angehörigen wahrgenommen werden. Neben dem Abbau der neurologischen Fähigkeiten kommt es mitunter auch zu Verhaltensänderungen. Es ist oft nicht leicht, den Betroffenen zu einer neurologischen Untersuchung zu bewegen. Es existiert – Stand heute – kein einzelner Test, mit dem bei einer Person Demenz nachgewiesen werden kann. Ärzte diagnostizieren Alzheimer oder andere Demenz-Arten auf der Grundlage einer sorgsam durchgeführten Anamnese, einer physischen Untersuchung, Labortests sowie kognitiven Tests. So können wir mit einem hohen Grad an Sicherheit bestimmen, ob eine Person unter Demenz leidet. Mindestens zwei der geistigen Hauptfunktionen sollten erheblich beeinträchtigt sein, damit eine Demenz in Betracht gezogen wird: Gedächtnis, Kommunikation und Sprache, Fähigkeit zur Konzentration und Aufmerksamkeit, logisches Denken und Urteilsvermögen sowie visuelle Wahrnehmung. Darüber hinaus gibt es bildgebende Verfahren wie CT oder MRT, um krankhafte Veränderungen der Hirnstruktur, beispielsweise Entzündungen, auszuschließen. Auch eine Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) kann Aufschluss über Demenzformen geben, insbesondere über Alzheimer.
Menschen mit Demenz können Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis haben, zum Beispiel den Überblick über Hand- oder Brieftasche verlieren. Beim Bezahlen von Rechnungen, der Vorbereitung von Speisen, der Erinnerung an Termine oder beim Verlassen der gewohnten Umgebung gibt es Defizite. Viele Demenzen sind fortschreitend mit einem langsamen Beginn und einer kontinuierlichen Verschlechterung. Das Durchschnittsalter von Patienten bei uns in der Geriatrie steigt stetig an. Viele leiden an mehreren Erkrankungen gleichzeitig. Die Demenz ist dann eine Erkrankung von mehreren Herausforderungen.
IMAGE: Ist eine Demenz behandelbar oder heilbar?
RANFT: Im Falle der meisten progressiven Demenzen einschließlich der Alzheimer-Krankheit gibt es keine Heilung und keine Behandlung, die das Fortschreiten verlangsamt oder stoppt. Aber es gibt Behandlungen mit Medikamenten, die ihre Symptome in einem begrenzten Zeitraum verbessern. Die Therapie konzentriert sich darauf, die Eigenständigkeit und die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen so lange wie möglich zu erhalten und zu verbessern. Zu einem ganzheitlichen Ansatz gehören neben den Medikamenten Aktivitäten, die das Denken und Kommunizieren fördern. Man kann mit Physio- und Ergotherapie die motorischen Fähigkeiten und kognitiven Funktionen verbessern. Man kann mit Musik und Kunsttherapie das Wohlbefinden steigern. Beratung und Hilfe für Angehörige ist ein weiterer zentraler Bestandteil der Behandlung. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung für alle Beteiligten wurde der geriatrische Versorgungsverbund „Netzwerk Geriatrie“ geschaffen. Zentraler Knotenpunkt in Witten ist das Ev. Krankenhaus.
IMAGE: Gibt es eine Möglichkeit zur Vorbeugung?
KOLODZIEJ: Die wichtigste Ursache von Demenz sind Durchblutungsstörungen des Gehirns. Daher müssen die Risikofaktoren Bluthochdruck, Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Abweichungen des Fettstoffwechsels, Übergewicht und hohes LDL-Cholesterin behandelt werden. Bewegung, gesunde Ernährung, die Vermeidung beziehungsweise der Abbau von Übergewicht, das Vermeiden von Rauchen sowie übermäßigen Alkoholkonsum sind wichtige Verhaltensweisen, die sich nicht nur positiv im Hinblick auf eine Demenz auswirken. Zu den vermeidbaren Ursachen einer Demenz gehören Vitamin- und Hormonmangelzustände. Hier sind regelmäßige Kontrollen sinnvoll. Das Risiko für eine Demenz wird auch durch Schwerhörigkeit und den Verlust der Sehkraft erhöht. Dem kann man durch das frühzeitige Tragen von Hörgeräten und Sehhilfen entgegenwirken. Beziehungen pflegen und neugierig bleiben ist ebenfalls wichtig. Studien zeigen: Wer sich über längere Zeit ungewollt allein fühlt, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, an Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz zu erkranken.
IMAGE: Ein Tipp noch für Angehörige?
RANFT/KOLODZIEJ: Angehörige müssen sich auf ihr demenzkrankes Familienmitglied einstellen – denn umgekehrt geht es nicht mehr. Auch können Demenzerkrankte ein sehr herausforderndes Verhalten an den Tag legen. Nicht selten brechen sich im Leben nicht verarbeitete Konflikte Bahn. Deshalb ist es sehr wichtig, sich ein persönliches Netzwerk zur Entlastung aufzubauen. Hier unterstützen wir mit dem ganzen Team der Geriatrie. von Dr. Anja Pielorz